Beschluss des AG Augsburg vom 17.07.2013

Testierunfähigkeit Zeugnisverweigerungsrecht Krankenkasse

Aktenzeichen: VI 1163/12

Kurze Zusammenfassung der Entscheidung:

Ist Gegenstand eines Erbscheinsverfahrens beim Nachlassgericht die Frage der Testierunfähigkeit des Erblassers, steht den Mitarbeitern einer Krankenkasse hinsichtlich eines Pflegegutachtens bezüglich des Erblassers kein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Die sozialrechtliche Verschwiegenheitspflicht endet vielmehr mit dem Tod des Erblassers, da zu unterstellen ist, dass der Erblasser Zweifel über seine Testierfähigkeit ausräumen will.

(Testierunfähigkeit Zeugnisverweigerungsrecht Krankenkasse)

Tenor:

1) Es wird festgestellt, dass dem Zeugen … kein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht.
2) Die durch die unbegründete Weigerung verursachten Kosten trägt der Zeuge.

Entscheidungsgründe:

Der Erblasser errichtete am 31.03.2006 und am 12.03.2009 jeweils ein handschriftliches Testament. Im Testament von 2006 setzte er seine Tochter zur Alleinerbin ein. Im Testament von 2009 bestimmte er seine drei Söhne sowie seine Tochter zu Miterben zu je 1/4. Möglicherweise war der Erblasser im Jahre 2009 nicht testierfähig nach § 2229 Absatz 4 BGB. Das Nachlassgericht holte u.a. Auskünfte bei behandelnden Ärzten zum geistigen Zustand des Erblassers ein. Es liegen dem Nachlassgericht auch Gutachten des Medizinischen Dienstes vor, allerdings nicht das vom 05.02.2007. Bei der richterlichen Vernehmung des Zeugen ….. am 19.06.2013 zum Inhalt des Pflegegutachtens des Medizinischen Dienstes vom 05.02.2007 berief sich dieser auf sein Zeugnisverweigerungsrecht nach 35 Absatz 3 SGB I und machte eine Aussage von der Zustimmung der vier Kinder abhängig. Der Zeuge ist der zuständige Sachbearbeiter bei der Krankenversicherung des Erblassers, bei der sich das Gutachten des Medizinischen Dienstes befindet. Die Kinder des Erblassers wurden zum Zeugnisverweigerung angehört. Die Tochter und ein Sohn erklärten ihre Zustimmung zur Auskunftserteilung des Zeugen über das Gutachten vom 05.02.2007. Die beiden anderen Söhne äußerten sich trotz gerichtlicher Aufforderung nicht.
Die Zeugenvernehmung beruht auf §§ 373 ff. ZPO i.V.m. § 30 Absatz 1 FamFG. Ein Zeugnisverweigerungsrecht steht dem Zeugen nicht zu.
Im vorliegenden Erbscheinsverfahren ist die Testier(un)fähigkeit des Erblassers durch die Einholung eines Gutachtens festzustellen. Vor der Beauftragung eines Gutachters hat das Nachlassgericht von Amts wegen (§ 26 FamFG) die Anknüpfungstatsachen zu ermitteln, die für die Gutachtenerstattung erforderlich sind. Hierzu gehören Feststellungen über den geistigen Zustand des Erblassers, welcher sich auch in Pflegeversicherungsgutachten finden (so Cording ZEV 2010, 23).
Dem Nachlassgericht ist bekannt, dass der Erblasser seit November 2006 die Pflegstufe 1 hatte. Dies beruhte auf einem Gutachten des Medizinischen Dienstes vom 05.02.2007.
Der Zeuge soll dazu vernommen werden, welche Feststellungen in diesem Pflegegutachten zum geistigen Zustand des Erblassers getroffen wurden. Dem Zeugen steht es dabei frei das Gutachten oder die entsprechenden Passagen dem Nachlassgericht vorzulegen.
Der Zeuge könnte zwar grundsätzlich ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 35 Absatz 3 SGB I wegen des sog. Sozialgeheimnisses zustehen, was auch im vorliegenden Verfahren zu berücksichtigen ist (OLG Bamberg Beschluss vom 11.08.1988 7 UF 50/87 für das Zivilverfahren oder LG Saarbrücken Beschluss vom 11.04.2002 1 Qs 12/2 für das Strafverfahren).
Bei dem Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes handelt es sich um Sozialdaten nach § 67 Absatz 1 SGB X. Auch geht es hier um die Übermittlung von Sozialdaten, was als das Bekanntgeben von Sozialdaten an einen Dritten definiert wird (§ 67 Absatz VI 2 Nr. 3 SGB X). Dieses Bekanntgeben kann auf zweierlei Weise erfolgen, zum einen als Weitergabe durch die speichernde Stelle an den Empfänger und zum zweiten als Einsehen oder Abrufen von Daten, die die speichernde Stelle dafür bereithält. Die Form der Bekanntgabe – ob mündlich, schriftlich oder auf andere Weise – ist irrelevant.
Die Datenübermittlung ist vorliegend aber nicht unzulässig im Sinne von § 35 Absatz 3 SGB I.
Die Übermittlung von Sozialdaten an Dritte ist den Leistungsträgern zum einen dann erlaubt, wenn eine gesetzliche Übermittlungsbefugnis nach den §§ 68 – 77 SGB X oder nach einer anderen Rechtsvorschrift im Sozialgesetzbuch vorliegt (§ 67 d Absatz 1 SGB X). Da die Übermittlung eine Phase der Verarbeitung von Sozialdaten ist (§ 67 Absatz 6 Satz 1 SGB X), wiederholt § 67 d Absatz 1 SGB X insoweit lediglich die abstraktere Regelung des § 67 b Absatz 1 SGB X. Als „andere” Rechtsvorschriften im Sozialgesetzbuch, die neben den in §§ 68 ff. SGB X normierten Übermittlungsermächtigungen eine Weitergabe von Sozialdaten an Dritte legitimieren können, kommen in erster Linie die bereichsspezifischen Datenverarbeitungs- und Datenschutzregelungen in Betracht. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben.
Zum anderen ist eine Datenübermittlung – obwohl § 67 d SGB X dies nicht ausdrücklich erwähnt – auch dann zulässig, wenn eine Einwilligung des Betroffenen vorliegt (siehe Gesetzesbegründung in BT-Dr. 12/5187). Dies ergibt sich aus § 67 b Absatz 1 SGB X, der die Verarbeitung von Sozialdaten für zulässig erklärt, soweit der Betroffene eingewilligt hat. Zur Verarbeitung gehört aber auch die Übermittlung von Sozialdaten (§ 67 Absatz 6 SGB X). Eine ausdrückliche Einwilligung des Erblassers zu dessen Lebzeiten liegt nicht vor.
Da nun der Betroffene verstorben ist, richtet sich die Verarbeitung und Nutzung, also auch die Datenübermittlung grundsätzlich nach den Vorschriften des Zweiten Kapitels des SGB X (§ 35 Absatz 5 Satz 1 SGB I). Insoweit ist eine Übermittlung hier nicht vorgesehen.
Indes ist eine Übermittlung auch dann zulässig nach § 35 Absatz 5 Satz 2 SGB I, wenn schutzwürdige Interessen des Verstorbenen oder seiner Angehörigen nicht beeinträchtigt werden, weil eine ausdrückliche Einwilligung des Betroffenen ausgeschlossen ist (vgl. BT-Dr. 12/5187, S. 28). Wie sich der Gesetzesbegründung (BT-Dr. 12/5187, S. 28) entnehmen lässt, ist § 35 Absatz 5 Satz 1 SGB I maßgeblich, wenn § 35 Absatz 5 Satz 2 SGB I nicht vorliegt.
Hier ist entgegen der Mitteilung der Krankenversicherung des Erblassers vom 13.05.2013 davon auszugehen, dass die Datenübermittlung nicht schutzwürdige Interessen des Erblassers oder seiner Angehörigen beeinträchtigen kann, vielmehr deren schutzwürdigen Interessen entspricht.
Bei der Interpretation des Begriffes „schutzwürdige Interessen“ hinsichtlich des Erblassers ist zu beachten, dass es auf den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen ankommt. Insoweit sind die von der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur mutmaßlichen Einwilligung zur ärztlichen Schweigepflicht heranzuziehen. Danach wird im Zusammenhang mit der ärztlichen Schweigepflicht nach § 203 Absatz 1 Nr. 1 StGB und nach § 383 Absatz 1 Nr. 6 ZPO eine mutmaßliche Entbindung durch den Erblasser angenommen, weil das wohlverstandene Interesse eines Erblassers nicht dahin geht, dass seine Testierunfähigkeit geheim bleibt, sondern das wohlverstandene Interesse geht dahin, dass die allgemeinen Vorschriften zum Schutze einer testierunfähigen (geschäftsunfähigen) Person nicht durch die ärztliche Schweigepflicht unterlaufen werden (BGHZ 91, Seite 392 = NJW 1984, Seite 2893; BGHNJW 1983, 2627; OLG Naumburg NJW 2005, 2017; BayObLG FamRZ 1986, 1238; OLG Stuttgart MDR 1983, 236). Andernfalls könnte es sein, dass ein „unrichtiger“ Erbschein zugunsten eines Beteiligten erteilt wird, der nicht erteilt werden würde, wenn aufgrund ausreichend ermittelter Anknüpfungstatsachen die Testier(un)fähigkeit und damit die (Un)wirksamkeit einer letztwilligen Verfügung festgestellt werden würde. Warum bei der Bestimmung der schutzwürdigen Interessen ein höherer Maßstab als bei der strafrechtlichen Bestimmung des § 203 Absatz 1 Nr. StGB oder der Bestimmung des Zeugnisverweigerungsrechtes eines Arztes nach § 353 Absatz 1 Nr. 6 ZPO angelegt werden soll, ist nicht erkennbar und auch nicht den Gesetzesmaterialien zu entnehmen (vgl. BT-Dr. 12/5187, S. 28). Bei der Bestimmung der schutzwürdigen Interessen des Erblassers ist für ein Erbscheinsverfahren sogar davon auszugehen, dass es die „Regel“ ist, dass der Erblasser an einer Datenübermittlung Interesse hat und nur „ausnahmsweise“ dies nicht wünscht, weil der Verstorbene zwar ein berechtigtes Interesse daran, dass die Ausführungen in dem Pflegegutachten vor seinem Tode nicht bekannt werden, aber sich dieses Geheimhaltungsinteresse regelmäßig durch das tatsächliche Ableben erledigt (BGH NJW 1983, 2627). Konkrete Anhaltspunkte, weshalb der Erblasser vorliegend gleichwohl das Geheimhaltungsinteresse als vorrangig ansieht, sind nicht erkennbar. Wegen des Regel-Ausnahmeverhältnisses genügen auch nicht Zweifel.
Schutzwürdige Interessen der Angehörigen können hier nicht beeinträchtigt werden, wobei es nach der Gesetzesbegründung ausreicht, dass sie nicht beeinträchtigt werden (BT-Dr. 12/5187, S. 28 rechte Spalte zu Absatz 5 Satz 3). Als Angehörige des verwitweten Erblassers kommen nur dessen vier Kinder in Betracht. Sie sind Beteiligte des vorliegenden Erbscheinsverfahrens, in dem die Testier(un)fähigkeit des Erblassers von Amts wegen ermittelt wird (§ 345 Absatz 1 Nr. 1 und 2 FamFG). Als Beteiligte sind sie nach § 27 Absatz 1 FamFG zur Mitwirkung bei der Sachverhaltsermittlung verpflichtet, so dass sie die Einwilligung erteilen müssten und folglich ihrerseits keine schutzwürdigen Interessen beeinträchtigt werden können. Im Gegenteil sind für sie die Feststellungen in dem Pflegegutachten von erheblichem Interesse, weil für alle vier Kinder die Gefahr besteht, dass nicht nur ein unrichtiger, sondern auch für sie ungünstiger Erbschein erteilt wird.
Welche Interessen der beiden Söhne, die nicht zugestimmt haben, beeinträchtigt werden können, ist mangels Äußerung nicht erkennbar. Im Übrigen müsste es sich um „schutzwürdige“ Interessen handeln.


(Testierunfähigkeit Zeugnisverweigerungsrecht Krankenkasse)